Fritz Kreisler mit Ehefrau | Bildquelle: picture-alliance/ullstein bild/Zander & Labisch

»Andantino« von Fritz Kreisler

Das erste Musikstück im deutschen Rundfunk

Einhundert Jahre nach dem offiziellen Start des Unterhaltungsrundfunks gibt es in Deutschland über 50 öffentlich-rechtliche, knapp 250 private sowie rund 100 sonstige Radioprogramme. Kaum vorstellbar, wie viele Musiktitel in genau diesem Augenblick über die Hörfunkwellen getragen werden. Geradezu unendlich die Anzahl aller Musikstücke, die seit 1923 ausgestrahlt wurden. Und dennoch theoretisch zählbar, anzufangen bei 1 – das live gespielte »Andantino« für Violoncello und Klavier des seinerzeit populären Komponisten Fritz Kreisler (1875-1962).

»Achtung! Hier Sendestelle Berlin Voxhaus Welle 400. Wir bringen die kurze Mitteilung, daß die Berliner Sendestelle Voxhaus mit dem Unterhaltungsrundfunk beginnt.«

Friedrich Georg Knöpfke, 29. Oktober 1923

Andantino (ausgeführt von Violoncello und Klavier), Komponist: Fritz Kreisler, Solist: Otto Urack (Violoncello), Aufnahmedatum vor 05.1923, Originaltonträger: Vox, Schellack (Ausschnitt, KONF 367708)

Inwiefern diese ruhige, eher unscheinbare Komposition bewusst wegen ihres Titels gewählt wurde – Andantino stellt in der klassischen Tempobezeichnung recht genau die Mitte dar – bleibt im Dunkeln. Ein »ausgewogener Start« für ein ganz neues Medium in unruhigen Zeiten war jedoch kein abwegiger Gedanke, als am 29. Oktober 1923 der spätere Funk-Stunde-Direktor Friedrich Georg Knöpfke verlas: »Achtung! Hier Sendestelle Berlin Voxhaus Welle 400. Wir bringen die kurze Mitteilung, daß die Berliner Sendestelle Voxhaus mit dem Unterhaltungsrundfunk beginnt.« Nachfolgend wurden die Künstler vorgestellt, die sodann mit dem »Andantino« ein etwa einstündiges Eröffnungskonzert einleiteten.

Kreisler komponierte gern »im alten Stile« und veröffentlichte diese Manuskripte als Bearbeitungen von Stücken bekannter Komponisten des 18. Jahrhunderts.

Start mit einer Imitation?

Ob die Protagonisten jenes Tages wie Knöpfke, aber auch der Cello-Solist und Kapellmeister Otto Urack oder der Pianist Fritz Goldschmidt (vgl. Bildzitat), der Kreislerschen Täuschung erlegen waren, das »Andantino« entstamme im unbearbeiteten Original der Feder des Mozart-Lehrers Giovanni Battista Martini (1706–1784), bleibt ebenfalls im Dunkeln. Als bewiesen gilt dagegen, dass Kreisler gerne auch »im alten Stile« komponierte, diese Manuskripte aber als Bearbeitungen von Stücken bekannter Komponisten des 18. Jahrhunderts veröffentlichte. Vielleicht um zu testen, wie nahe er alten Meistern kam, wie glaubwürdig er imitieren konnte. Als er 1935 seine Fälschungen offenlegte, waren viele Kritiker entrüstet, andere dachten, er mache Witze. Heute akzeptiert die Musikwissenschaft seine Imitationen als Bereicherung des Violin-Repertoires (vgl. Stanley Sadie (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2. Aufl., 2001, Bd. 13, S. 890).

Das hier vorgestellte Hörzitat ist aufgrund der 1923 noch nicht vorhandenen Aufnahmetechnik übrigens kein Live-Mitschnitt. Der vorliegende Ausschnitt aus einer Industrieproduktion der Firma Vox, einer der Hauptanteilseigner der späteren Funk-Stunde AG, ist allerdings kurz vor Start des Unterhaltungsrundfunks auf Schellack veröffentlicht worden und dürfte der Live-Übertragung vom 29. Oktober 1923 aus dem Berliner Voxhaus recht nahe kommen, zumal auch hier Otto Urack der Cello-Solist ist und Fritz Goldschmidt möglicherweise ebenfalls am Klavier saß.

Fritz Kreisler wurde bereits mit sieben Jahren als »Wunderkind« von Anton Bruckner unterrichtet, gewann im Alter von nur zwölf Jahren die höchste Auszeichnung des Pariser Konservatoriums, spielte in seinen zwanziger Jahren bei den Berliner Philharmonikern und gewann weitere internationale Preise. Durch frühe Plattenverträge gelangte er zu außerordentlichem Wohlstand. Mit Beginn der NS-Zeit lebte er in Österreich und verweigerte fortan Auftritte in Deutschland, worauf seine Werke dort verboten wurden. Von 1939 bis zu seinem Tod im Jahr 1962 lebte er in New York als amerikanischer Staatsbürger. Aufgrund eines Autounfalls gab er ab 1941 nur noch wenige Konzerte, hatte aber eine eigene Radiosendung bis in die 1950er Jahre hinein.

Adrian Haus

Detaillierte Informationen zu Strukturen und Personalien der damaligen Sendegesellschaften finden Sie unter Organisation des Weimarer Rundfunks.

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