Willy Brandt am Erfurter Hauptbahnhof am 19.03.1970 | Bildquelle: picture alliance/dpa

Willy Brandt – Der Staatsmann in Erfurt

Geboren im Jahre 1913 als unehelicher Sohn einer Lübecker Verkäuferin, wurde sein Stiefgroßvater in den 1920er Jahren zur prägenden Bezugsperson. Als Publizist und Sozialdemokrat emigrierte er während der NS-Zeit nach Norwegen und Schweden. Im Nachkriegsdeutschland avancierte er zu einem der bedeutendsten Staatsmänner der Bundesrepublik: Herbert Ernst Karl Frahm, der sich 1934 den Namen Willy Brandt gab und der diesen von 1949 an auch als offiziellen Namen trug.

Als SPD- Abgeordneter im ersten Bundestag konnte Willy Brandt von Anfang an die Entwicklung der noch jungen Bundesrepublik mitgestalten. 1957 folgte die Wahl Brandts zum Regierenden Bürgermeister von Westberlin. In seine Amtszeit fielen der Mauerbau 1961 und der legendäre Besuch des US-Präsidenten John F. Kennedy zwei Jahre später. 1966 wurde Willy Brandt Außenminister und Vizekanzler in der Großen Koalition unter CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger. Und bereits drei Jahre später wurde Brandt schließlich selbst zum Kanzler gewählt. Er führte eine Koalition aus SPD und FDP an.

Brandts Innenpolitik folgte dem Credo »Mehr Demokratie wagen«.

Das Reformprogramm der sozial-liberalen Regierung brachte den Bürgern u. a. eine bessere Absicherung durch die Sozialversicherungen, gerechtere Bildungschancen, nicht zuletzt durch die Einführung des BAföG, die rechtliche Gleichstellung der Frauen und mehr Mitbestimmung in Politik und Betrieben.

Brandts Außenpolitik war geprägt durch Maßnahmen der Annäherung mit den Staaten des Ostblocks. So hielt die Bundesrepublik im August 1970 gemeinsam mit der Sowjetunion im Moskauer Vertrag fest, die gegenwärtigen Grenzen in Europa nicht antasten zu wollen, um so den Frieden auf dem Kontinent zu erhalten. Im Dezember desselben Jahres vereinbarte die Bundesrepublik Ähnliches mit der Volksrepublik Polen im Warschauer Vertrag.

Bereits am 19. März 1970 reiste Brandt auf Einladung der DDR als erster westdeutscher Regierungschef zu einem Gipfeltreffen mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, nach Erfurt. Tagungsort war das Interhotel »Erfurter Hof« gegenüber dem Hauptbahnhof. Zahlreiche DDR-Bürger hatten sich aus diesem Anlass bereits am Morgen auf dem Bahnhofsvorplatz versammelt. Schließlich wurden es so viele, dass sogar Polizeisperren fielen und die Menschen direkt vor das Hotel drängten. Brandt wurde bei seiner Ankunft von begeisterten DDR-Bürgern mit »Willy, Willy«-Rufen begrüßt.

Treffen zwischen Willy Brandt und Willi Stoph am 19.03.1970 in Erfurt. Ausschnitte aus »Aktuelle Kamera - Sondersendung« (IDNR 045656)

Nachdem Brandt und Stoph mit ihren Delegationen im Hotel verschwunden waren, hielt die Euphorie der Menschen auf dem Vorplatz weiter an. Sie riefen »Willy Brandt, Willy Brandt!« und schließlich »Willy Brandt ans Fenster!«. Regierungssprecher Ahlers war es schließlich, der Brandt aus seinem Hotelzimmer holte mit der Bitte, dem Wunsch der Jubelnden nachzukommen. Willy Brandt – um diplomatisches Verhalten gegenüber seinen Gastgebern bemüht – zeigte sich schließlich kurz den Jubelnden und winkte ihnen zu.

Im weiteren Tagesverlauf kam es zu Gesprächen zwischen Stoph und Brandt, in denen beide ihre Standpunkte darlegten.

Es folgte ein gemeinsamer Besuch der Gedenkstätte Buchenwald. Beim Verlassen des »Erfurter Hofs« hatte sich eine andere Menschensammlung vor dem Hotel firmiert. Deren Jubelrufe galten Willi Stoph: »Hoch, hoch, Willi Stoph!«. Sie passten zu den Losungen, die bereits am Vormittag den Vorplatz auf Plakaten schmückten: »Der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR kann niemand ausweichen!«. Die bestellten systemtreuen »Demonstranten« waren eilends hergebracht worden. Gegen die Jubelnden vom Vormittag ermittelten später Polizei und Staatssicherheit der DDR. Anhand von Fotos und Aufnahmen des Westfernsehens wurden später 750 Bürger identifiziert und als Staatsfeinde eingestuft.

Der Tag endete mit weiteren Gesprächen, die jedoch ohne konkrete Ergebnisse blieben. Den Wunsch der DDR nach vollständiger Anerkennung durch die BRD konnte Brandt nicht nachkommen. Man verabredete ein zweites Treffen in Kassel.

Das Gipfeltreffen in Erfurt brachte zwar keine konkreten Ergebnisse. Dennoch kann Brandts Bemühen um Annäherung mit den Staaten des Ostblocks als bedeutender Beitrag zum Frieden in Europa betrachtet werden. Dies honorierte auch das Nobelpreiskomitee und verlieh Willy Brandt 1971 den Friedensnobelpreis.

Mit dem Grundlagenvertrag, den beide deutsche Staaten im Dezember 1972 unterzeichneten, trug Brandts Ostpolitik erste Früchte. Darin hielten BRD und DDR u. a. die Achtung der bestehenden Grenzen, die Unterstützung von Abrüstungsbemühungen und die Zusammenarbeit u. a. in Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft fest.

Willy Brandts Ära als Bundeskanzler endete 1974. Nachdem bekannt wurde, dass sein Referent Günter Guillaume ein Agent im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR ist, zog Brandt die Konsequenzen und trat von seinem Amt als Kanzler zurück. Den SPD-Parteivorsitz, den er seit 1964 innehatte, behielt er bis 1987 bei und wurde anschließend zum SPD-Ehrenvorsitzenden auf Lebenszeit ernannt. Nach seiner Kanzlerschaft gehörte Brandt als Abgeordneter weiterhin dem Bundestag an. Von 1976 bis 1992 war er zudem Präsident der Sozialistischen Internationalen.

Nach dem Fall der Mauer unterstützte Willy Brandt die Ost-SPD im Wahlkampf vor der Wahl zur 10. Volkskammer der DDR – den ersten wirklich demokratischen Volkskammerwahlen – und sprach auf verschiedenen Wahlkundgebungen in der DDR. Sein Engagement führte ihn dabei am 3. März 1990 nach Erfurt. Beinahe genau 20 Jahre nach dem ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen besuchte er somit die thüringische Stadt erneut.

Willy Brandt als Ehrenvorsitzender der SPD zum Auftakt seiner Wahlkampfreise in Erfurt. Ausschnitt aus: »Aktuelle Kamera«, Beitrag »Willy Brandt in Erfurt«, Erstsendung: 03.03.1990 (IDNR 046653)

Im Herbst 1990 führte er als Altkanzler mit der SPD Wahlkampf für ganz Deutschland. Landtagswahlen und die Bundestagswahl 1990 standen vor der Tür. Wenige Tage vor der Deutschen Einheit äußerte er sich auf einer Wahlveranstaltung in Potsdam-Babelsberg zur Neufassung des Grundgesetzes für das vereinte Deutschland.

Willy Brandt als Gastredner auf einer Wahlkampfveranstaltung der SPD Brandenburg. Ausschnitt aus: »Reportagen und Berichte - Landessender Brandenburg«, Beitrag »Wahlveranstaltung mit Willy Brandt in Potsdam-Babelsberg«, Erstsendung: 01.10.1990 (IDNR 121311)

Willy Brandt verstarb am 8. Oktober 1992 im Alter von 88 Jahren im rheinland-pfälzischen Unkeln, in dem er seit 1979 lebte.

Maximilian Seiler

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